Reisevorbereitungen (4.-8.4.)

Von der Idee bis zur Umsetzung dauert es nur ein paar Tage. Und selbst für diesen Zeitraum bin ich als ungestümer Widder eigentlich zu ungeduldig. Zunächst braucht es 25 Bücher. Sofort. Eigentlich ist „sofort“ eine Aufgabe für den Buchhändler meines Vertrauens. Davon gibt es in meiner kleinen Stadt gleich mehrere. Das ist schon ein Privileg, wenn es noch mehrere Inhaber geführte Buchhandlungen, in denen man stöbern kann, in denen man belesenen Rat bekommt und die einem jedes im Bestand nicht vorhandene Buch zum nächsten Tag bestellen und auf Wunsch sogar nach Hause liefern. Meine erste Handlung – die Buchhändler haben Sperrstunde – ist eine Online-Recherche. Überrascht stelle ich dabei fest, dass es nicht nur die mir geschenkte Version des Buches gibt, sondern noch eine ein paar Zentimeter größere Version – auch gebunden, aber mit einem Schutzumschlag statt des direkt bedruckten Kartons meiner Ausgabe. Und von dieser Version scheint es eine höhere Auflage zu geben, denn die Preisrecherche ergibt einen Gebrauchtmarkt. Jenen bemühe ich dann und erstehe gebrauchte Bücher. Warum man dieses Büchlein wieder verkauft, werde ich nicht verstehen, aber mir kommt es nun zu Gute. Kann man eigentlich beim Gebrauchtbuchkauf wie selbstverständlich davon ausgehen, das diese auch gelesen sind? Beim Durchblättern bin ich mir nicht so sicher. Dieses verdächtige Knacken, wie es nur beim ersten Öffnen eines Buches zu hören ist, die unberührten Seiten ohne jede Spur von geblättert habenden Fingern, ohne Notizen, ohne jeden Hinweis auf eine Vor-Leserin oder einen Vor-Leser. Natürlich. So ist sicher die Idealvorstellungen beim Kauf außerhalb von Buchhandlungen. Aber merkwürdig erscheint es mir doch. Ich schaue in mein Regal: Ungelesene Bücher stehen da einige. Bücher, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Bücher, deren Zeit eigentlich vorbei ist. Selbst Gekauftes, Geschenktes, Doppeltes. Bücher in zweiter Reihe. Bücher, deren Schutzumschlag seine Aufgabe übererfüllt hat. Ich fasse mich dann mal an die eigene Nase.

Manch Schutzumschlag der bei mir eintreffenden Ausgaben hat seine beste Zeit hinter sich. Wie das zu dem jungfräulichen Innenleben passt, erschließt sich mir nicht. Immerhin müssen die Bücher manchen Ortswechsel hinter sich gebracht haben. Vielleicht keine schlechte Vorbereitung auf eine Lesereise. Gedruckt worden sind sie übrigens allesamt in Leck, in einem Städtchen nur eine gute Stunde von meinem Städtchen entfernt. Den Ort kennt kaum ein Mensch außerhalb des Bundeslandes, in dem er liegt. Aber aus ihm kommende Produkte dürfte jeder lesende Mitbürger schon einmal in der Hand gehabt haben. Während der Druckphase der Harry Potter-Romane glich die Druckerei einem Hochsicherheitstrakt. Keine gedruckte Seite, auch kein Fehldruck, durfte das Haus, den Ort, das Land verlassen.

Präpariertes Buch #1 – mit Bedienungsanleitung

Gelesene Bücher dürfen gelesen wirken. Das zeigt doch erst die Geschichte vor oder hinter der Geschichte. Ich befreie die Büchlein also vom Schutz. Diesen zerteile ich und klebe das Frontmotiv auf einen schwarzen Karton. Auf der Rückseite des Kartons befestige ich die „Bedienungsanleitung“ dieser Lesereise ohne Autor. Jedes Büchlein wird nummeriert und ich beginne jeweils eine Liste für die Eintragungen der Leserinnen und Leser. So präpariert werden die Bücher zusammen mit einer kurzen aber herzlichen Grußkarte in Briefumschläge gesteckt, jene ausreichend frankiert und stehen nun für die Reise bereit. Aber morgen ist ein neuer Tag.

Die Idee (3.4.)

In mir entsteht eine Idee. Sie folgt dem Impuls, das gerade in mein Leben gelangte Büchlein weiterzugeben. Allerdings mag ich mich davon nicht dauerhaft trennen. Also muss ich es irgendwie zurückbekommen. Bücher zu verleihen, funktioniert in meinem Leben nicht. Nicht, dass ich das nicht trotzdem regelmäßig machen würde. Aber leider finden verliehene Bücher nicht immer wieder zurück – und irgendwie habe ich dafür ja auch Verständnis. Ähnlich ist das bei den Leih-Büchereien. Ich würde darauf wetten, dass die Haupteinnahmequelle dieser wichtigen Institutionen weder die über öffentliche Haushalte zugewiesenen Steuermittel noch die Mitgliedsbeiträge sind, sondern die Strafzahlungen aus dem Überziehen der Leihfristen. Oder ziehe ich falsche Schlüsse aus eigener Erfahrung? Manches Buch hätte ich mir besser gleich gekauft…

Beides! Ich werde das Büchlein verschenken und es behalten. Wie? Das mir Geschenkte behalte ich – ein weiteres werde ich verschenken. Vielleicht auch zwei oder drei weitere. Und ich werde gegenüber den Beschenkten den Wunsch äußern, sich selbst alsbald wieder von dem Büchlein zu trennen und es auf eine Lesereise zu schicken. Wieviel Publikum die Willemsensche Rede wohl wird erreichen können auf diesem Wege?

Ich frage meine Facebook-Freundinnen und -Freunde, was sie von der Idee halten. Ein Herzchen und 19 Daumen sind das Ergebnis – nicht repräsentativ, aber ok. Darunter immerhin eine amtierende Bildungs- und Kulturministerin. Eine die liest. Die viel liest.
Aber was mich bewegt: 23 Menschen möchten bei dem Experiment mitmachen! Darunter ehemalige Mitschülerinnen und -schüler, die ich seit Jahrzehnten nicht gesehen habe, Politikerinnen, Musiker, Kolleginnen und Kollegen aus der Kultur und anderen Feldern. Ich bin beeindruckt!

Die Lektüre (1.+2.4.)

Auch der Tag nach meinem Geburtstag ist von Gesprächen geprägt, fängt gleich mit einer Feier im NordkollegInnen-Kreis an und ist im weiteren Verlauf so intensiv, dass ich am Abend die Flucht in die Literatur suche, in – wie sich später herausstellte: vermeintliche – Stille. Ich greife mir das Büchlein von Roger Willemsen, setze mich aufs Sofa und tauche ein in die sprachgewaltigen Sätze, von denen ich manchen gleich mehrfach lesen muss, lesen möchte – um jedes Detail zu erfassen, zu verstehen, wertzuschätzen.

Von Standpauken erwartet man eigentlich eine über das normalerweise Erträgliche hinausgehende akustische Belästigung, die auch physisch Schmerz erzeugt. Roger Willemsens Stil ist Lautstärke nie gewesen. Sein gemessen am Inhalt fast unangebracht wirkender sanfter Ton ließ viele seiner wohlgesetzten Worte eine Wirkung entfalten, die mit betäubender Lautstärke nicht erreicht worden wäre. Die leise tief ins Bewusstsein dringenden messerscharfen Analysen sind deutlich schmerzhafter.
Anders, als seine Stimme beim eigenen Lesen zu hören, kann ich dieses Buch nicht lesen. Erstens ist seine Stimme aus den vielen Interviews und Moderationen sehr gut bekannt und zweitens handelt es sich um eine Rede. Wo er diese wohl gehalten haben mag? In einem Gutshof in Mecklenburg-Vorpommern weiß das Netz. Wer saß im Publikum? Wie wurde reagiert?
Es überrascht nicht, auch von diesem Büchlein Roger Willemsen eine Hörbuch-Version im Handel zu finden. Nicht er selbst liest, sondern der Schauspieler Christian Brückner, dessen Stimme möglicherweise viel bekannter ist, als sein Gesicht, verleiht er doch Robert de Niro seine Stimme in den synchronisierten Fassungen seiner Spielfilme. Und so mag mir dieses Hörbuch nicht gefallen – auch wenn ich nicht mehr als die frei im Netz verfügbare mehrminütige Hörprobe getestet habe. Das hätte ich lassen sollen.

Ich setze die Lektüre am nächsten Morgen fort. Gelegenheit dazu bietet eine allzu frühe Zugfahrt von Rendsburg nach Bremen, die im Dunkeln beginnt. Schon auf der Hochbrücke habe ich das Buch in der Hand, unterbreche die Lektüre beim Umsteigen in Hamburg und beende sie kurz vor Bremen. Da ist es erst 9 Uhr. Aber im Kopf und im Herzen herrscht Hochbetrieb.

Das Geschenk (31.3.)

Am 31. März dieses Jahres (2019) – das war ein sonniger und frischer Frühlingssonntag – bin ich 50 Jahre alt geworden. Das rauschende Fest sollte später folgen, aber die Tür stand offen für alle, die mir einen Besuch abstatten wollten. Und so kamen Familie und Freunde, jung und alt. Aus dem Brunch wurde eine Kaffeetafel, aus jener ein Abendessen. Es war ein wunderbarer Tag voller anregender Gespräche! Dass der Tag dank einer der wahrscheinlich letzten Zeitumstellungen auf 23 Stunden verkürzt wurde, machte ihn nur intensiver, konzentrierter.

Auf den sich langsam aber stetig füllenden Gabentisch der nicht geäußerten Wünsche gelangte schließlich auch das Geschenk einer Freundin, von der man mindestens sagen kann, dass sie weiß, was mich bewegt und antreibt. Und sie weiß, dass – und oft auch was – ich lese. So war ein Buchgeschenk aus ihrer Hand nicht überraschend. Aus dem Geschenkpapier entwickelte sich ein kleines und schmales Büchlein, ca. 9 cm in der Breite und 12 cm in der Höhe. Die mit Vorspann und editorischer Notiz gerade 60 Textseiten ummantelt ein ansprechender fester Buchdeckel, der vor einem hellblauen Himmel sich fliegend entfernende bunte Vögel zeigt, die man wegen der gewollten Unschärfe der Aufnahme nicht näher beschreiben kann. Über allem der Name des Autors: Roger Willemsen. Weiter unten der auf drei Zeilen ge- und versetzte Buchtitel: „Wer wir waren“. So weit die ersten Eindrücke.

Dafür, wie man an solch trubeligen Tagen allen Erwartungen gerecht wird, habe ich auch nach 50 Jahren immer noch kein Patentrezept. Widmet man sich unmittelbar dem Geschenk? Oder legt man das zunächst beiseite, um sich in Gänze dem Gast zu widmen? Ich versuchte im Erwachsenenalter mehrjährig geübter Praxis eine gesunde Mischung, zu der ohne Frage auch eine angemessene Würdigung des Geschenkes gehören sollte. Bei geschenkten Büchern kann sich dies in einem kurzen Vertiefen in den Klappentext ausdrücken, der sich in diesem Fall bei diesem besonderen Büchlein auf dessen Rücken findet.

Der Blick auf den Buchrücken verrät, dass Roger Willemsen vor seinem Tod an einem neuen Buch arbeitete, welches den Titel „Wer wir waren“ tragen sollte und einen Blick aus der Zukunft in unsere Gegenwart zum Inhalt hätte haben sollen. Als der Autor im Sommer 2015 erkrankte, stellte er das Schreiben unmittelbar ein. Zentrale Gedanken steckten aber in seiner als mitreißend beschriebenen „Zukunftsrede“, die zu seinem letzten öffentlichen Auftritt wurde und die sich in diesem Büchlein findet. Sie sei der leidenschaftliche Aufruf an die nächste Generation, sich nicht einverstanden zu erklären.
Den Buchrücken schmücken schließlich noch zwei Zitate, eines aus der Rede selbst und ein weiteres aus einer Rezension.

Alles in allem vielversprechend! Ich äußerte echte Freude, legte das Büchlein wieder auf den Gabentisch und widmete mich den Gästen.